Nordstrand bei Erfurt

Nordstrand

Am nordöstlichen Stadtrand von Erfurt liegt die beinahe hufeisenförmige Wasserfläche des Freizeitbades Nordstrand. Der flache, aber ebenso pflanzenreiche See brilliert recht oft mit guten Sichtweiten. Deshalb ist der Baggersee mit Tauchbasis und vielen weiteren Freizeitangeboten eines der beliebtesten Tauchziele im gewässerarmen Thüringen. Falk Wieland und Cornelia Beyer berichten für UnterWasserWelt aus einem immergrünen Tannenwedel-Dschungel mit Monsterkarpfen.

Die Tauchschule „Yellow Submarine“ liegt auf der Landzunge zwischen den beiden Seebecken. Der klare Kiessee ist bereits seit 1972 für den Wassersport erschlossen. Direkt unterhalb der Basis existiert ein guter Taucheinstieg mit gemütlichem Zugang und Metallstufen bis ins Wasser. Wir laufen jedoch freiwillig deutlich weiter, um eine ausgedehnte Runde zu tauchen: An der Spitze der Landzunge im „Inneren“ des hufeisenförmigen Sees führt ein Schwimmsteg zum anderen Ufer, wo der Technikstützpunkt der Wasserskianlage als Pfahlhaus im Wasser steht. Wir schleppen die Ausrüstung bis mitten auf den Schwimmsteg und steigen hier ein.
Der Nordstrand-See wird über lange Uferstrecken hinweg von einer schmalen Schilfzone gesäumt. Doch die wichtigste Pflanze ist der Tannenwedel. Schon von außerhalb des Wassers sehen wir die dichten grünen Felder locken. Und schon bald schweben wir über fette, regelrecht geschlossene Felder der scherzhaft „Flaschenbürste“ genannten Pflanze.
Tannenwedelflächen bleiben nahezu rund ums Jahr grün. Das deutliche Vergehen sowie Zerfallen der Pflanzenbestände im Herbst und den kompletten Neuaufwuchs der Sprosse im Frühjahr, wie wir es für viele höhere Wasserpflanzen kennen, machen Tannenwedelfelder nicht durch. Bei dieser Wasserpflanze vergilben und verrotten zu allen Jahreszeiten Einzelpflanzen, und ebenso sind jederzeit sprießende Minipflanzen zu sehen.
Die Tannenwedel wachsen zwei bis drei Meter hoch. Was sich zwischen und unter den Pflanzen verbirgt, ist nicht zu sehen. Sie sind ein erstklassiges Fischversteck. Dies führt dazu, dass man die Aale, Schleien, Bleie und Zander des Sees allein auf Nachttauchgängen erleben kann. Wahrscheinlich wäre der See bereits völlig und bis dicht unter die Wasseroberfläche zugewachsen, wenn es die Karpfen und Wasservögel nicht gäbe. Zahlreiche an den Ufern und vor den Schilfzonen angespülte und offenbar aus dem Grund ausgerissene Pflanzen beweisen, dass sich dort regelmäßig „jemand“ zu schaffen macht.
Vermutlich können wir konstatieren, dass sich die Karpfenbestände des Nordstrand-Sees und die immergrünen Dschungel in einem relativen Gleichgewicht befinden. Einerseits produzieren die Pflanzen den nötigen Sauerstoff für das flache Gewässer, der angesichts der Wühlorgien Dutzender Karpfen und der damit verbundenen Einarbeitung halb verrotteter Partikel in den Wasserkörper dringend erforderlich ist. Andererseits führen wohl hauptsächlich das Wühlen der Karpfen und das Rupfen der Wasservögel dazu, dass es noch freie Schwimmstrecken und unterseeische Gassen in den Pflanzenwäldern gibt. Schließlich könnte der See durch das exorbitante Pflanzenwachstum völlig verlanden.
Ein solches „Überschiessen“ einer durch die örtlichen Verhältnisse absolut bevorteilten Pflanzenart ist nicht ungewöhnlich. In der Vergangenheit war es oft die Wasserpest, die durch ausufernden Wuchs Kanäle und Seen verstopfte. Doch auch bis in die Gegenwart sind solche Fälle bekannt: Man denke an den beliebten Heider Bergsee bei Brühl (Region Köln), wo eine derartige Massenentwicklung einer Tausendblattart „normal“ ist, dass im Sommer allein ein spezielles Mäh-Boot die wassersportliche Nutzung des Sees garantiert.
Wir tauchen im Dämmerlicht unter dem Schwimmsteg dahin. Hier halten sich gern ein paar Barsche auf. Dann erreichen wir die Stahlstandbeine, die den Technikwürfel der Wasserskianlage tragen. Interessant bewachsene Gitterkonstruktionen ragen auf. Wo immer die Tannenwedel eine Lücke bis zum Seegrund lassen, sieht man entweder den blanken Sedimentboden oder ein paar Miniaturausgaben anderer Wasserpflanzenarten. Doch im Schatten der übermächtigen Hippuris-vulgaris-Wälder (Tannenwedel auf „wissenschaftlich“) gedeihen allenfalls ein paar kniehohe Tausendblätter, schwächlich wirkende Hahnenfusspflanzen oder ein wenig Wasserschwaden. In anderen Seeregionen entdecken wir noch kleinwüchsige Ausgaben von Spiegelndem und Krausem Laichkraut.
Im Grunde sind die Tannenwedelmassen ein gutes Zeichen. Sie zeigen den Zutritt von kalkhaltigem Grundwasser an und gedeihen allein bei Klarwasser und mittlerem Nährstoffangebot. In geringen Tiefen wächst Tannenwedel über die Wasseroberfläche hinaus und blüht. Die an der Luft wachsenden Blätter sehen tatsächlich wie Tannennadeln aus. Doch Tannenwedel ist auf das Blühen nicht angewiesen, sondern kann sich auch in tiefem Wasser durch vegetatives Neuaustreiben aus alten Sprossbruchstücken vermehren.
Wir sehen uns die Seehälfte mit dem sogenannten Kieskanal an, ehe wir erneut den Schwimmsteg unterqueren und mitten im See in Richtung Tauchbasis schwimmen. Die hohen Tannenwedelwiesen können sehr dekorativ sein, aber auch nerven. Jeder Fisch, den wir auf Entfernung entdecken, taucht sogleich auf Nimmerwiedersehen in die grüne Unterwelt ein. Einzige Chance auf Beobachtungen versprechen kahle Stellen und Gassen im Bewuchs, die es ermöglichen, seitlich zwischen die Tannenwedel zu blicken.
Unmittelbar vor dem Basiseinstieg finden wir eine solche Fläche. Wie das Tauchschulteam erzählte, können hier zuweilen von oben 50 und mehr Karpfen beim Umgraben des Seebodens gesehen werden. Schade nur, dass man im Fall der Fälle an die scheuen Einzeltiere kaum herankommt. Selbstverständlich sind hier Kreiseltaucher extrem im Vorteil! Genau hier unterhalb des Basisgebäudes begegnen wir einigen Fischen. Dicht über dem grünen Wust der Flaschenbürsten stehen große und kleine Hechte, die von der undurchsichtigen und undurchdringlichen Pflanzenmasse möglicherweise auch genervt sind. Jedenfalls stehen sie oben drüber und lauern.
Und dann sehen wir Karpfen. Es gibt zum einen Schuppenkarpfen, die komplett beschuppt ungefähr die Urform der Familie Karpfenartige Cyprinidae darstellen. Ferner beobachten wir Zeilenkarpfen (mit geschlossener Schuppenreihe auf der Seitenlinie); Spiegelkarpfen (die auf ihrer Lederhaut nur noch einige unregelmäßig verteilte Schuppen tragen und die fast schwarzen, schuppenlosen Lederkarpfen. All diese Kulturformen des Karpfens mit vermindertem Schuppenkleid stellen Züchtungen dar, die eine leichtere Handhabbarkeit des Speisefisches Karpfen erreichen sollten. Man kann sie alle im Nordstrand-See finden.
Auch unsre heute als „einheimisch“ empfundenen Karpfenarten kamen ursprünglich aus Asien. Die Römer brachten sie mit in den europäischen Kulturkreis. Man schätzt, dass sich diese heute als „europäisch“ empfundenen Ausgaben von Cyprinus carpio etwa seit einer Klimaerwärmung zwischen Früh- und Hochmittelalter hier bei uns vermehren können. Immerhin schaffen sie „es“ ab 17 Grad Wassertemperatur.
Darüber hinaus leben im Nordstrand-See gut einen dreiviertel Meter lange asiatische Karpfen anderer, jüngerer Importchargen, die der Fischereiwissenschaft weiterhin als Asiaten gelten. Diese fallen durch ihr ungewöhnliches „Gesicht“ auf: Im Verhältnis zur Lage der Maulspalte scheint das Auge viel zu weit unten am Schädel zu liegen. Die exotischen Gesellen zählen meist zu den Arten Graskarpfen und Silberkarpfen. Die asiatischen Karpfenarten sind zu DDR-Zeiten in diversen Seen und Talsperren in exorbitanten Mengen eingesetzt worden. Fischereiwissenschaftler versprachen sich davon, dass Graskarpfen einen Teil übermäßig wuchernder Wasserpflanzen wegfressen würden. Von Silberkarpfen glaubten Experten früher, dass sie Phytoplankton (pflanzliches Plankton) abseihen, sprich mittels ihrer Kiemenreusenapparate wegfiltrieren und fressen würden.
Leider haben die asiatischen Karpfen die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Im Gegenteil, sie filtrieren auch Zooplankter wie die allseits bekannten Wasserflöhe ab und verringern dadurch die Wasserklarheit – weil dann die Daphnien ihrerseits als Filtrierer fehlen. Leider kann man die asiatischen Karpfen kaum angeln, sie meiden auch Stellnetze und lernen es rasch, über Zugnetze zu springen. Wasserwirtschaftler warten sehr auf den Tag, an dem dieser ökologische Fehlgriff durch das natürliche Sterben der asiatischen Karpfenarten beendet wird – denn zum Ablaichen ist es diesen Tieren in Deutschland zu kalt.
Mit den geduldigsten Exemplaren unserer (seit über 1.000 Jahren) einheimischen Karpfen können wir schlussendlich sogar ein wenig herumschwimmen und sie dabei beobachten, wie sie ihren staubsaugerartigen Rüssel ausfahren und gründeln. Ganz anders die scheuen und misstrauischen asiatischen Arten: Von denen sehen wir bei Tageslicht allenfalls die enteilende große Schwanzflosse. Die in Europa heimischen Karpfen können im Freiwasser bis zu 1,10 m lang und 50 Jahre alt werden. Manche der im Nordstrand-See beobachteten Exemplare sind wenigstens halb so groß.
Auch direkt vor der Basis können wir wieder die bizarr veralgten Gittermasten der Wasserski-Schleppanlage besichtigen. Ferner schwebt eine überdimensionale Hechtskulptur namens „der Holzhecht“ im Flachwasser und eine weiß ausgelegte Ausbildungsplattform gibt es auch. Ganz rechts vor der Basis existiert ein Stück Stahlspundwand mit den davor hängenden Saugrohren einer Pumpstation. Diese Pumpstation saugte einst Brauchwasser aus dem See und das war gut so. Denn dadurch blieb der Seespiegel konstant. Die Pumpstation wurde leider mit Dieselmaschinen betrieben und das ist zu teuer geworden. Seit hier kein Wasser mehr entnommen wird, steigt das Wasser permanent an und mittlerweile gehen schon die ersten Bänke am Uferrundweg unter Wasser. In wenigen Jahren ist so die Seetiefe vom einst sieben auf derzeit neun Meter angestiegen.
Im Nordstrand-See ist das Tauchen nur nach Anmeldung und Zahlung einer Tauchgebühr (derzeit 5 Euro) gestattet. Solange keine anderen Wassersport-Aktivitäten stattfinden, können wir Taucher fast alle Seeteile erschließen. Sobald Badebetrieb herrscht, gelten jedoch strikt drei genau festgelegte Taucheinstiege, um Interessenskollisionen mit anderen Erholungssuchenden zu vermeiden. Es wäre nicht der Publikumserfolg, etwa am FKK-Strand aufzutauchen. Wenn Ruhe am See herrscht, stellen die Teile der Wasserskianlage einen interessanten Unterwasseranblick dar. Sobald jedoch Wasserskibetrieb stattfindet, ist diese Anlage zu meiden und das Tauchen dort wäre lebensgefährlich.
Deshalb: Lassen Sie sich vom Tauchbasisteam ist die jeweilige Situation einweisen und halten Sie sich an Tauchgebiete und Einstiege. Wer gern „den See für sich“ hätte, muss unter der Woche und außerhalb der Badesaison anreisen. Der Nordstrand Erfurt ist einige Tauchgänge wert, und man kann diesen Platz auch leicht mit den Nordhäuser Seen (UnterWasserWelt berichtete bereits) zu einer kleinen Thüringen-Reise verbinden.

Infos

www.tauchsport-yellowsub.de
www.wasserski-erfurt.de

Literatur
„Tauchreiseführer Deutschland – Berlin, Hessen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen“ ISBN 3-89594-070-4

Falk Wieland

Beitrag erstellt 2010