Sabine Kerkau: Die Geschichte der Elbing IX

Ein von Netzen befreites Wrack erzählt seine Geschichte

Vor der Küste Litauens liegen viele interessante, gut erhaltene und zum Teil unberührte Wracks. Seit 4 Jahren sind die Taucher des Baltic Sea Heritage Rescue Projects, unterstützt durch den deutschen Verein Baltic Sea Nature & Heritage Protection Association (www.BSNHPA.org), mit Kapitän Linas Duoblys und der NZ55 in dem nur 90 Km umfassenden Küstenabschnitt unterwegs, um neue Wracks zu suchen, zu identifizieren und zu dokumentieren. Oft ist es notwendig, die Wracks zuerst von großen Mengen Geisternetzen zu befreien, bevor das Identifizieren und Dokumentieren überhaupt möglich ist. In den Projektwochen 2019 wurde das Wrack der Elbing IX vom Baltic Sea Heritage Rescue Project Team von riesigen Schleppnetzen gesäubert – Bericht in UnterWasserWelt.

Auch wenn die Elbing IX nicht zu den Wracks gehört, die vom BSHRP Team gefunden und identifiziert wurden, kamen bei der, nach der Säuberung durchgeführten Dokumentation, doch überraschende „Schätze“ zum Vorschein.

Auf dem Dampfschiff Elbing IX wurde hauptsächlich Fracht transportiert, es konnten aber auch Passagiere befördert werden, so wie das Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts häufig der Fall war.

Das Schiff wurde 1913 gebaut. Gesunken ist der Frachter nur ein Jahr später, am 17.11.1914. Am Morgen dieses Tages war der deutsche Panzerkreuzer Friedrich Carl auf zwei Minen gelaufen und drohte zu sinken. Die Elbing IX reagierte auf einen Notruf des manövrierunfähigen Schlachtschiffes und machte sich von Memel (Klaipeda) aus auf den Weg, um einen Teil der 600 Matrosen der Friedrich Carl zu evakuieren. 591 Besatzungsmitglieder des Flaggschiffs Friedrich Carl wurden aber in der Zwischenzeit schon von dem Kreuzer Augsburg aufgenommen, der dem sinkenden Schlachtschiff zu Hilfe geeilt war. Die Augsburg nahm, mit wahrscheinlich gut 1000 Mann an Bord, Kurs auf Memel.

Die Besatzung der Elbing IX wusste davon nichts und setzte ihre Rettungsmission fort. Kurz bevor sich die Augsburg und die Elbing begegneten, also schon in Sichtweite der Augsburg, lief die Elbing IX auf eine Mine und sank.

Diese Minensperre war neu. Durch die Explosion gewarnt änderte der Kapitän der Augsburg seinen Kurs Richtung Westen und konnte so das Schiff und die Besatzungen der Augsburg und der Friedrich Carl sicher nach Danzig Neufahrwasser bringen. Der Untergang der Elbing IX hat vermutlich bis zu 1000 Menschen das Leben gerettet. (Danke an unser Teammitglied Holger Buss für die Recherche und das Herausfinden dieser spannenden Geschichte.)

Die Untergangsstelle der Elbing IX befindet sich ca. 30 Km vor der litauischen Küste. Die Position des Wracks ist schon seit Jahren bekannt und wie das eine oder andere Youtube Video beweist, wurde an dem Wrack auch schon öfter getaucht und leider ist auch das eine oder andere Artefakt verschwunden.

Trotzdem entschied sich das BSHRP Team, dieses schöne alte Wrack zu säubern und zu dokumentieren. Nachdem die gefährlichen Netze vom Wrack entfernt waren, führte das Team unter Leitung von Sabine Kerkau mehrere Dokumentationstauchgänge durch.

Das Wrack der Elbing IX steht in einer maximalen Tiefe von 49 Metern aufrecht auf Grund. Die Bugspitze befindet sich auf 43 Meter Tiefe. Der Bug ist beeindruckend und gut erhalten. Die beiden großen Anker hängen immer noch in den Ankerklüsen. Auch der Reserveanker ist noch auf dem Schiff zu finden. Er lehnt auf der Steuerbordseite an der Wand zum Vorschiff.

Einen unerwarteten aber sehr erfreulichen Fund machten Ingo Diekmann und Jörn Kumpart, als sie auf dem Vordeck, vor der Ankerwinde, die massive Glocke des Schiffes entdeckten. Die Glocke trägt die Inschrift 1913 Elbing IX. Die Glocke befand sich nach wie vor auf dem Wrack.

Die Elbing IX hatte drei Laderäume. Zwei vor und einen hinter den Aufbauten. Die letzte Fracht des Schiffes bestand vermutlich aus Hartkohle. Als das Team des BSHRP die Laderäume näher untersuchte fanden sie im zweiten Laderaum die Schiffsplakette mit der Aufschrift:

N:886
Schichau
Elbing 1913

Hätte es an der Identität des Wracks noch irgendeinen Zweifel gegeben, dann wäre dieser spätestens jetzt ausgeräumt gewesen.

Es wurden viele weitere interessante Funde gemacht, die bisher unter den Netzen verborgen waren. Auch wenn von den ehemaligen Aufbauten des Schiffes nicht mehr viel übrig ist, so dokumentierten die Taucher doch Lampen (die Elbing IX hatte elektrisches Licht), diverse Bullaugen, zwei Sextanten, die Dampfpfeife, Besteck und auch ein sehr gut erhaltenes hölzernes Steuerrad. Auf der Steuerbordseite gibt es in diesem Teil des Schiffes noch ein Stück gefliesten Boden, vermutlich das Badezimmer des Passagierdecks. Hier befinden sich diverse Reste der Badezimmereinrichtung, wie z.B. Teile von Handtuchhaltern, Spiegelhalterungen, Kleiderharken und vieles mehr.

Das Heck der Elbing IX ist durch den Minentreffer stark zerstört. Der Steuerbordpropeller lässt sich zum Teil noch als solcher erkennen, ist aber deformiert und drei Blätter der Schraube sind abgebrochen. Der Backbordpropeller ist nach oben gebogen und zwischen Trümmern versteckt. Nur der Ersatzpropeller ist unbeschädigt. Er liegt auf Deck hinter dem letzten Laderaum.

Die Elbing IX ist ein wirklich schönes Wrack an dem es sehr viel zu entdecken gibt und das mit einer Tauchtiefe zwischen 42 und 49 Meter einem Technischen Taucher eine gute Grundzeit ermöglicht. Die gefundenen Artefakte sind dokumentiert und diese Dokumentationen wurden im Rahmen von bestehenden Kooperationsverträgen an die Universität von Klaipeda und das Litauische Meeresmuseum weiter gegeben.

Im August 2020 war es dann so weit. Das Lithuanien Sea Museum gab uns den Auftrag, die wunderschöne Glocke der Elbing IX zu bergen. Ingo Dieckmann und Ich erledigten diese ehrenvolle Aufgabe am 21.08.2020 unter der Aufsicht von zwei Museumsmitarbeitern. Nun warten wir voller Vorfreude darauf, die Glocke im Museum ausgestellt zu sehen.

Das Wrack der Elbing IX wird vom Baltic Sea Heritage Rescue Project Team und der NZ55 regelmässig besucht. Interessierte Taucher, die helfen möchten dieses und weitere „Unterwassermuseen“ zu schützen, sind herzlich willkommen.

Um die anspruchsvollen Unterwasserarbeiten hochwertig zu unterstützen, konnte das Baltic Sea Heritage Rescue Project Team einen Kompressor des Unternehmens Bauer Kompressoren aus München zum Einsatz bringen, der dem Projekt freundlicherweise zur Verfügung gestellt worden war. Die hohen Ansprüche an reinste Atemluft im Umfeld unserer tiefen Tauchgänge erfüllt das Produkt des renommierten Herstellers in allen Details und unterstützt unsere Projektarbeit sehr wertvoll.

Dank an unsere Ausrüstungssponsoren:

Seareq ENOS System, Fourth Element, Scurion, Scubapro, o2 Rescue, Bauer Kompressoren, MPS, DiverTug Int., Surface Marker, SeaYa,

https://www.bshrp.org/

Sabine Kerkau