Sabine Kerkau: Die Elbing IX

Die Säuberung von Geisternetzen (Teil 1)

Für die Projektwochen 2019 hatten wir, das Team des Baltic Sea Heritage Rescue Projects, uns das Ziel gesetzt das Wrack des Frachters Elbing IX, gesunken 1914, von Geisternetzen zu befreien. Das Wrack war vom Bug bis zum Heck voll mit riesigen Netzen.

Fast alle Netze hatten sich am Wrack verfangen und wurden durch ihre Schwimmkörper nach oben gezogen. Besonders am Heck, wo ein gigantisches Netz ca. ein Drittel des 80 Meter langen Wracks verhüllte, hatte man das Gefühl, vor einem Zirkuszelt zu stehen. Dieses Monsternetz schwebte bis zu 20 Meter über dem Wrack. Die gesamte Szenerie am Wrack konnte man nur als gespenstisch beschreiben.

Die Elbing IX wurde als Projektziel 2019 ausgewählt, weil sie mit einem Tiefenbereich von 42 bis 49 Metern zu den „flachen“ Wracks gehört. Als wir im April 2019 mit unserer ersten Projektwoche starteten, hatten nur die wenigsten von uns praktische Erfahrung im Netze schneiden und bergen. Es schien uns aus Sicherheitsgründen vernünftig, mit unserer Arbeit an einem nicht so tief liegenden Wrack zu beginnen.  Unser Kooperationsvertrag mit dem archäologischen Institut der Universität Klaipeda erlaubt uns in Tiefen ab 40 Meter zu arbeiten. Die flacheren Wracks sind den Tauchern der Universität vorbehalten.

In der ersten Projektwoche befreiten wir die Elbing IX von einem grossen Stück Netz, das sich am Bug verfangen hatte. Wir hatten das Team in zwei Gruppen aufgeteilt. Während eine Gruppe, bestehend aus maximal 4 Tauchern, im Wasser war blieb die zweite Gruppe auf dem Schiff und hielt sich als Safety Team für den Notfall bereit. Ausserdem hatte diese Gruppe den Auftrag, auftauchende Netze aus dem Wasser aufs Schiff zu bringen.

Das Wrack der Elbing IX liegt in der Nähe der stark befahrenen Schifffahrtsstrassen, die zum Hafen von Klaipeda führen. Wir durften nicht riskieren, mit unserer Bergeaktion den Schiffsverkehr zu gefährden. Wir arbeiteten in 43 Meter Tiefe. Es durfte sich immer nur eine Gruppe am Netz betätigen. Es war dunkel und das Wasser 4°C kalt. Die eigentlich gute Sicht hielt nur bis zu dem Moment, in dem wir begannen, das Netz zu schneiden. Die Arbeit war für Mensch und Material eine grosse Herausforderung. Die Netze waren sehr stabil und nicht selten mit Metallfäden oder anderen Kernen verstärkt. Mit normalen Tauchermessern kamen wir da nicht weit. Als brauchbar stellten sich Eisensäge, Seitenschneider und ein Profimesser von green River heraus.

Unsere Arbeit ging in der ersten Woche sehr langsam voran. Wir mussten so viel lernen. Ausserdem hatten wir die Vorgaben der Universität einzuhalten. Wir durften die Wracks durch unsere Arbeit nicht beschädigen und mussten jede Minute des Tauchgangs und unsere Arbeit durch Bilder und Videos dokumentieren. Das wichtigste war jedoch die Sicherheit aller Beteiligten. In dieser Hinsicht war unsere erste Projektwoche ein Erfolg, wenn auch die Menge der Netze die wir rausholen konnten noch nicht gross war.

Für den Juni und Juli hatten wir zwei weitere Projektwochen geplant. Das Ziel sollte es sein, den Mittelteil des Wracks zu säubern. Dies gelang uns schon in der Ersten Woche. Das hatten wir besonders einer Gruppe von litauischen Tauchern zu verdanken, die eine wirklich hervorragende Arbeit leistete. Dieses Mal konnte sich die Menge an Netzen, die wir vom Wrack an die Oberfläche holten, wirklich sehen lassen.

Die Netze werden von uns an die Firma NOFIR übergeben. NOFIR reinigt sie und trennt sie in die unterschiedlichen Materialien auf. Das Rohmaterial wird zur Herstellung unterschiedlicher Produkte wieder verwendet.

Die zweite Projektwoche im Sommer konnten wir nicht durchführen da ein schwerer Sturm uns die ganze Woche im Hafen festhielt. Leider kommt das in der Ostsee immer wieder vor.

Auch die erste der zwei für September geplanten Projektwochen konnte wegen zu starkem Wind nicht durchgeführt werden. Wir hatten schon fast die Hoffnung aufgegeben unser Ziel, die Elbing IX komplett von den Netzen zu befreien, zu erreichen, als das Wetter sich beruhigte und wir unsere Arbeit fortsetzen konnten.

In nur zwei Tagen mussten wir nun das riesige Netz vom Heck nach oben bringen. Uns war klar, dass wir keine halben Sachen machen durften. Ganz oder gar nicht war die Devise. Zu gross war die Gefahr, dass sich in den Winterstürmen nicht mehr ganz festsitzende Netzteile vom Wrack lösen konnten. Durch die an ihnen befestigten Schwimmkörper würden sie dicht unter der Wasseroberfläche treiben und schlimmstenfalls zu einer Schiffskatastrophe führen. Anfangen oder auf das nächste Jahr warten? Keine leichte Entscheidung!

Nachdem wir wieder auf die Hilfe unserer litauischen Freunde von Nardymo Akademija zählen konnten entschlossen wir uns die Bergung zu wagen.

Das Netz war riesig und es war sehr gefährlich daran zu arbeiten. Die Schwimmkörper hielten es in einer Breite bis zu 20 Metern über dem Wrack. Es war sehr instabil und änderte durch jede Bewegung seine Position. Es war sehr wichtig, dass alle ausser dem Taucher, der am Schneiden war, genügend Abstand zum Netz einhielten. Wir konnten nicht die ganze Länge vom Netz überblicken und es war schwer vorherzusagen, wie es reagieren würde, wenn wir es mehr und mehr vom Wrack lösen würden.

Die Grösse liess vermuten, dass es sehr schwer sein würde. Wir überlegten, ob wir es, bevor wir es vom Wrack lösten, erst in mehrere Teile zerkleinern sollten, um es dann an der Oberfläche leichter aufs Schiff bringen zu können. In der Theorie ein guter Plan, aber in der Praxis viel zu gefährlich für die Taucher. Wir brauchten zwei volle Tage und 5 Tauchgänge, bis sich das Netz auf den Weg zur Wasseroberfläche machte.

Unter Wasser war dieser Moment, als das Netz sich Richtung Oberfläche bewegte, ein fantastischer Augenblick. Von dem Drama, was sich dann in den folgenden 60 Minuten an der Oberfläche abspielte, erfuhren die Taucher, zu denen auch ich gehörte, erst später.

Das Netz erreichte die Wasseroberfläche und konnte dank des ENOS Senders, den wir immer an den Hebesäcken, mit denen wir die Netzteile an die Wasseroberfläche schicken, befestigen, schnell lokalisiert werden. Das Tauchteam hatte zu diesem Zeitpunkt noch fast 60 Minuten Deko vor sich. Unglücklicher Weise gab es an diesem Tag eine Oberflächenströmung die das Netz relativ schnell Richtung Schifffahrtsstrasse treiben liess. Eine prekäre Lage für unseren Kapitän. Einerseits wollte er die Taucher auf Deko nicht alleine lassen und auf der anderen Seite durften wir mit unserer Bergeaktion keines der vielen grossen Schiffe, die Richtung Klaipeda unterwegs waren, gefährden.

Der Kapitän entschied sich, zuerst das Netz zu bergen. Doch es war zu schwer. Die Besatzung und das Safety Team schafften es auch mit der Winde nicht, das Netz aufs Schiff zu bekommen.

Das Netz trieb weiter direkt auf zwei grosse Container Schiffe zu. Der Kapitän kehrte zu den Tauchern an der Aufstiegsleine zurück und behielt das treibende Netz auf dem ENOS Bildschirm im Auge. Das erste Containerschiff war ausser Gefahr, aber für das zweite konnte es gefährlich werden. Es blieb nur eins, der Kapitän des Containerschiffs musste gewarnt werden. Er musste seinen Kurs korrigieren, um nicht in das Netz zu fahren. Diese Aktion hätte für unseren Kapitän und auch für uns ernste Folgen haben können.

Nachdem das Tauchteam zurück auf dem Schiff war machten wir uns sofort an die Verfolgung des treibenden Netzes. Es war auch mit der vollständigen Mannschaft zunächst nicht möglich, das Netz aufs Schiff zu bekommen. Erst als wir uns entschlossen, die am Netz befestigten alten Schwimmkörper im Wasser abzutrennen und getrennt vom Netz aufs Schiff zu ziehen, waren wir erfolgreich. Es dauerte mehrere Stunden, bis alles geborgen war. Es war eine grosse Herausforderung, die wir nur als Team bewältigen konnten.

Zum Glück ist am Ende alles gut gegangen und wir konnten unser Ziel erreichen. Die Elbing IX ist, bis auf ein paar kleine Reststücken, frei von Geisternetzen. Wir haben 2019 viel gelernt und werden es 2020 umsetzen!

2020 wird es neue Projektwochen mit einem neuen Ziel geben. Wir freuen uns auf zahlreiche Unterstützung.

 

ELBING IX

Nationalität: deutsch
Typ: Frachtschiff
Antrieb: Dampf
Gebaut: 1913
Tonnage: 886 brt
Größe: 66,8 x 10,2 m
Geschwindigkeit: 9 Knoten
Gesunken nach Kontkt mit Seemine: 17.11.1914
Besatzung: 16
Opfer: 1

Baltic Sea Heritage Rescue Project

ist eine Non Profit Organisation, die 2018 von Rolandas Schön, Sabine Kerkau und Linas Duoblys in Litauen gegründet wurde. Die Ziele unserer Organisation sind das Suchen, Finden und Dokumentieren von Wracks vor der Küste Litauens. Wir befreien die Wracks von Geisternetzen und kümmern uns um die umweltgerechte Entsorgung dieses gefährlichen Sondermülls. In den Projektwochen, in denen die Wracks untersucht und gesäubert werden, ist die Mithilfe von interessierten Tauchern mit entsprechender Erfahrung sehr willkommen.

Dank an unsere Ausrüstungssponsoren:

Seareq ENOS System, Fourth Element, Scurion, Scubapro, o2 Rescue, Bauer Kompressoren,

MPS, DiverTug Int., Surface Marker, SeaYa,

https://www.bshrp.org/
http://files.mikrokopter.de/Gezeitentaucher/ELBING_IX.pdf

Sabine Kerkau