Apnoetaucherin und Waterwoman Anna von Boetticher im großen Interview

Ich hänge da einem Seil, 100 Meter unterhalb der Wasseroberfläche – und unter mir geht es gefühlt noch endlos abwärts

Azoren: Anna mit Blauhai

Über Anna von Boetticher – Deutschlands erfolgreichste Apnoetaucherin – zeigt die ARD im Juli 2022 eine vierteilige Doku. Im Interview mit Andreas Haslauer, das zunächst im Spiegel veröffentlicht wurde, spricht die Literaturwissenschaftlerin darüber, warum sie stets Haie anstarrt und wieso ihr unlängst ein Rochen eine „Watschn“ verpasste. Außerdem  offenbart die Abenteurerin, was sie an Pippi Langstrumpf fasziniert, wie sie einen Blackout überlebte und warum sie auf Suche nach magischen Orten, Augenblicken und dem Licht ist. Denn: „Mit diesem Licht bin ich ein Teil des Ozeans, Teil dieser absolut faszinierenden Welt“, erklärt die Apnoetaucherin.

AH: Reinhold Messner ist nicht nur Bergsteiger. Er ist nach eigener Aussage auch Grenzgänger, Naturschützer und Geschichtenerzähler. Trifft das auch auf Sie zu?

AvB: Ich habe die Liebe zum Erzählen schon immer in mir, weswegen ich auch Literatur studierte. Wenn ich also was zu erzählen habe, dann mache ich das liebend gerne. Allerdings nur unter meinen Bedingungen.

AH: Die da wären?

AvB: Ich habe schon viele Angebote bekommen um über den „Extremsport Apnoetauchen“ zu drehen. Meistens wollten sie uns Freitaucher*innen als „Adrenalin-Junkies“ zeigen. Diese Art von Programmen habe ich abgelehnt. Ich will, dass die Zuschauer, die mit mir auf Reisen gehen auch sehen, wie es wirklich ist. Und auf Reisen ist es wie in einer Beziehung, da gibt es gute und schlechte Zeiten. Viele denken ja wirklich, dass ich den ganzen Tag in Fünf-Sterne-Hotels abhänge, Kokosnüsse esse und Piña Colada schlürfe.

AH: In der ARD-Reihe “Waterwoman” kämpfen Sie mit Kakerlaken, Taranteln…

AvB: … genauso wie mit der Kälte. Ich will nicht jammern, ich liebe mein Leben.

Azoren – Blauhaie und Mobula

AH: Woher kommt aber Ihr Drang nach Abenteuern?

AvB: Von meinen Eltern. Sie haben mir eine wahre Neugierde auf das Leben vererbt. Mein Vater hat mit uns die tollsten Weltreisen unternommen – und zwar alle von Icking aus, einem Ort in Oberbayern. Von dort aus haben meine Brüder und ich mit unserem Vater den Ozean überquert, sind auf Berge geklettert und haben Wälder durchstreift – und zwar vom Sandkasten aus (lacht). Ein Tag ohne Abenteuer war bei uns ein verlorener Tag.

AH: „Anna ist die neugierigste Person, die ich je erlebt habe“, sagt Henning Rütten, der Filmemacher. Er hat Sie auf die Azoren, nach Island, Mexiko und Ungarn begleitet. Damit bringt die ARD erstmals eine Dokumentation über eine freitauchende Sportlerin heraus.

AvB: …die in einer absoluten Randsportart zu Hause ist. Vielleicht liegt es daran, dass meine „Sportplätze“ doch ein wenig schöner zu filmen sind als eine Eishalle oder ein Tennisplatz (grinst). Im Ernst: Das hört sich jetzt vielleicht abgedroschen an, ist aber so: für mich geht ein Traum in Erfüllung. Ich habe in den vergangenen Monaten zusammen mit Henning das gemacht, was ich schon immer machen wollte.

AH: Zum Beispiel?

AvB: Vor zehn Jahren habe ich mal ein Bild von einer Wendeltreppe unter Wasser in Budapest gesehen. Nun bin ich dorthin abgetaucht, in den verborgenen Räumen einer gefluteten Mine. Und wissen Sie was mir besonders gut gefällt?

AH: Sagen Sie es mir bitte

AvB: Wir haben nicht die 3000. Doku an einem weißen Sandstrand gedreht. Ich liebe es vielmehr, mich an Orten auszusetzen, die nicht unbedingt auf den ersten Blick schön sind. Mich interessieren schwierige Orte. Ihre wahre Magie zu finden macht das erleben viel intensiver. In der Serie läuft vieles nicht glatt. Einmal spielt das Wetter nicht mit, ein anderes Mal gerate ich unter Wasser in Schwierigkeiten. Henning, der Hamburger, und ich waren uns einig: wenn wir was zeigen, dann genau so wie es war. Ganz nach dem Rudolf-Augstein-Prinzip: „Sagen, was ist“.
Und noch was war anders.

AH: Was denn?

AvB: Bei den großen BBC-Dokus sehen die Menschen faszinierende Naturschauspiele, aber sie haben doch immer Abstand dazu. Sie sind nicht so persönlich eingebunden wie bei uns. Wir nehmen die Zuschauer mit auf die Reise, inklusive Kakerlaken und absolut hilflose Filmemacher – liebe Grüße an Henning (lacht).

AH: Wenn man Ihnen in der Doku so zusieht, hat man das Gefühl, als seien Sie die erwachsene Version von  Pippi Langstrumpf.
AvB: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit (lacht). Schauen Sie, früher hat mich das Buch über „Die Rote Zora“ begeistert. An einer Stelle kämpft Branko mit einer Krake im Mittelmeer. Sie versucht ihn mit aller Macht unter Wasser zu ziehen. Doch Branko befreit sich in allerletzter Minute aus ihren Fängen. Diese Mischung aus mythischen Ungetüm und Mut übt bis heute große Faszination auf mich aus.

AH: Und deswegen springen Sie zu Haien ins Wasser. Dabei beachten Sie drei Regeln: ihn nicht berühren, an allen Körperteilen Kleidung tragen, dem Raubfisch in die Augen schauen. Bekommt er Angst wenn Sie böse schauen?

AvB: (lacht). Das mögen Sie vielleicht nicht glauben, aber ich merke schon, dass der Hai sich anders verhält wenn ich ihn anstarre. Die Grundregeln beachte ich bei allen Räubern unter Wasser. Wenn ich aber merke, dass sich die Haie durch mich gestört fühlen, dann steige ich sofort aus dem Wasser. Zum einen gebietet das der Respekt gegenüber den Tieren, zum anderen ist es mir mein Leben wert.

AH: Viel Respekt zeigte der Mobula-Rochen aber nicht als er Ihnen…

AvB: … auf bayerisch eine „Watschn“ verpasste. Die einzige, die hier  einen Fehler machte, war ich. Ich habe mich dem Rochen zu schnell genähert. Er erschrak sich, beschleunigte  und hat mich dann mit einem Flügelschlag aus Versehen erwischt. Damit ist klar:  „Mädel, Vorsicht! Hier unten bist du bei mir zu Gast.“

AH: „Die Tiere sind bei Freitauchern neugieriger“, sagen Sie. Warum ist das so?
AvB: Normale Taucher, also mit Pressluft-Flaschen ausgerüstet, machen unter Wasser ganz schön Lärm. Das verschreckt die Tiere. Wir Freitaucher sind hingegen ohne Geräte unterwegs, tauchen wie Delfine oder Wale als „normale Meeressäuger“ in ihrem aquatischen Lebensraum. Wir nehmen wie sie eine Lunge voll Luft und tauchen ab, sind in dem Moment Meeresbewohner wie jeder andere. Wichtig ist nur, dass ich, wenn ich bei den Haien, Rochen und Walen bin, es auf eine Weise mache, die möglichst wenig Schaden anrichtet. Vielleicht kann ich dabei auch die Vorteile des „Öko-Tourismus“ nach dem Vorbild der Bahamas oder Galapagos ein Stück weit in die Welt tragen.

Azoren Anna mit Blauhai – Mexiko Anna in einem Schwarm Tarpune in der Nähe von Xcalak – Island: Anna trifft am Strytan im Akureyri Fjörd einen Seewolf

AH: Welche Veränderung sehen Sie?

AvB: Ich möchte mich nicht als Umweltkrieger rechtfertigen. Ich will die Welt entdecken, davon erzählen. Wie die meisten von uns bin ich mir bewusst, dass wir mit unserem Planeten besser umgehen müssen. Das Arten- und Korallensterben weiter geht. Früher waren meine Reisen planbarer. Wenn ich mich heute auf den Weg mache, weiß ich nicht, ob mich dort eine Hitzewelle erwartet oder es morgen schneit.

AH: „Es ist die ultimative Pause, das Verharren zwischen Ein- und Ausatmen, ein Still sein, wie es der Mensch sonst nicht kennt. Es ist das Anhalten der Welt, von dem wir alle manchmal träumen“, schreiben Sie in Ihrem Buch „In die Tiefe“.

AvB: Der Bergsteiger Hans Kammerlander hat mal auf die Frage, was er von der Bergen gelernt habe, geantwortet: „Demut, Demut, Demut“. Mir geht es genauso. Egal ob Berge oder Meer, alles ist so viel größer als wir Menschen. Wir sollten der Schöpfung demütig sein: gegenüber dem Meer, der Wüste, dem Leben und dem Licht.

AH: Dem Licht?

AvB: Wenn die Leute mich fragen, was ich da unten gesehen habe, sage ich immer, dass ich das Licht der Tiefe in mir aufgenommen habe. Mit diesem Licht bin ich ein Teil des Ozeans, Teil dieser absolut faszinierenden und wunderschönen Welt. Ich finde das bis heute unglaublich. Ich hänge da einem Seil, 100 Meter unterhalb der Wasseroberfläche – und unter mir geht es gefühlt noch endlos abwärts.

AH: Ganz so tief war es nicht als Sie ihre ersten Tauchversuche im elterlichen Pool des Elternhauses in Icking gemacht haben.

AvB: Dafür war es viel gefährlicher als alles andere, was ich bisher gemacht habe.

AH: Sie wollen mich veräppeln?

AvB: Mit acht Jahren bin ich stolze 38 Meter in unserem Schwimmbad getaucht. Voller Freude erzählte ich meinem Bruder, dass ich so lange unter Wasser war, bis es an den Rändern meines Gesichtsfeldes schwarz wurde. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Heute weiß ich, dass ich damals fast ohnmächtig geworden wäre, mich in absolute Lebensgefahr gebracht habe. Wäre ich bewusstlos geworden, hätte mich niemand retten können. Niemand war da, ich wäre einfach ertrunken.

AH: Die Befürchtungen hatte ihr Vater auch ein paar Jahre später bei einer Segelreise zu den Ionischen Inseln.

AvB: Ein Missgeschick meines Bruders. Er wollte nur das dreckige Spülwasser ins Meer kippen – und kippte unser komplettes Besteck über Bord. Der Versuch meines Vaters, das Besteck wieder vom Grund hochzuholen, missglückt mehrfach. Er bekam den Druckausgleich in den Ohren nicht hin. Also versuchte ich es. Ein paar Minuten später hatte ich alle Messer und Gabeln vom Meeresgrund hochgeholt.

AH: Wie tief war es dort?

AvB: 16 Meter. An dem Tag wurde mir klar, dass ich wohl ein Tauch-Talent besaß.

AH: Mit eigentlich schwierigen körperlichen Voraussetzungen

AvB: Einerseits ist mein Lungenvolumen um rund 25 Prozent zu klein. Andererseits kämpfe ich seit zwei Jahrzehnten mit der Autoimmunkrankheit „Hashimoto Thyreoiditis“.

AH: Das bedeutet, dass ihre Schilddrüse entzündet ist. Dies hat zur Folge, dass die Drüse nicht mehr ausreichend Hormone produziert. Wie haben Sie das gemerkt?

AvB: Ich nahm mit 32 plötzlich zwölf Kilo in sechs Wochen zu. Dann, von einem auf den anderen Tag, konnte ich nicht mehr die vier Stockwerke zu meiner Wohnung hochlaufen, bekam Haarausfall, Sehstörungen – schlief den ganzen Tag. Das waren die körperlichen Auswirkungen, hinzu kamen psychische, weil mein Hormonhaushalt ins Wanken geriet.

AH: Wie hat sich das gezeigt?

AvB: Indem ich morgens gut gelaunt das Haus verließ, zwei Minuten später heulend an der Bushaltestelle stand. Ich wusste aber gar nicht warum. Statt der Krankheit auf den Grund zu gehen, fragten mich die Ärzte, ob ich vielleicht doch zu viel Schokolade gegessen hätte. Das war ein fürchterlich langwieriger Prozess, bis die Ärzte endlich die Krankheit diagnostizierten, ich mich mit ihr abfand.

AH: Wie belastet Sie das heute?

AvB: Ich bin gerade auf Teneriffa, um zu trainieren. Während die anderen ständig ins Wasser springen, muss ich viel öfters Pausen machen. Das nervt total! Apnoetauchen ist jedoch eine größere Belastung, als man denkt und ich muss immer etwas vorsichtiger sein, um nicht ins Übertraining zu geraten. Mittlerweile habe ich mich aber mit meiner Krankheit arrangiert, lasse mich durch sie nicht unterkriegen.

AH: Was heißt das?

AvB: Dass ich fitter und belastbarer bin als je zuvor.

AH: „Ich träume nicht, bin reines Bewusstsein, körperlos. An den Rändern: Finsternis, die versucht, mich zurückzuziehen, in den ohnmächtigen Schlaf. Ich fühle die Panik, die sich nähert, wie ein Schatten, der über mich zu fallen droht. Verzweifelt kämpfe ich. Ich will aufwachen“, schreiben Sie in Ihrem Buch als Sie 2011 beim Auftauchen in Sharm El Sheikh bewusstlos wurden.

AvB: Das ist bis heute einer der spektakulärsten Blackouts, die es im Freitauchen jemals gab – bei einem Weltrekordversuch in der Disziplin „Variables Gewicht“. Eigentlich lief alles perfekt ab, ich war top vorbereitet. Nur meine Maske drückte bei diesem Tauchgang etwas fester als sonst in mein Gesicht. Nach 130 Metern, beim Umdrehen, wollte ich die Augen öffnen. Es ging nur nicht, denn die Maske hatte sich mit dem Druck verformt und presste auf meine Lider. Ich war dort unten blind.

AH: Und dann?

AvB: „Das macht nichts“, dachte ich, und schwamm los. Doch dann, es war gerade erst der zehnte Flossenschlag, traf mich die erste Zwerchfellkontraktion – 100 Meter zu früh! Ich wusste: Mist, irgendwas läuft hier verdammt schief, ich wusste nur nicht was. Das einzige, was ich wusste, war, dass ich ein sehr großes Problem hatte und nicht einschätzen konnte, ob ich es bis nach oben schaffen würde. Das Wichtigste war, ruhig zu bleiben, denn Panik tötet. Statt von der Angst getrieben nach oben zu sprinten, wurde ich langsamer, versuchte, mich zu entspannen. Gerade als ich dachte, ich schaffe es doch, gingen mir die Lichter aus – 40 Meter unter der Wasseroberfläche. Alles in mir wollte atmen.

AH: Die Retter zogen Sie in letzter Minute nach oben, beatmeten Sie, holten Sie ins Leben zurück. Was war das Problem?

AvB: Ein „Augen-Herz-Reflex“.

AH: Was ist das?

AvB: Das bedeutet, dass mein Körper den Druck auf meine Augen als Gefahr verstand. Also versucht er, ihn loszuwerden, indem er meine Herzfrequenz drastisch absenkte. Im besten Fall zur Ohnmacht, im schlimmsten Fall zum Herzstillstand.

AH: Wie kam es dazu?

AvB: Ich hatte nicht genug Luft in die Maske geblasen, worauf sich diese verformte und auf meine Augen drückte. Das hat den „Augen-Herz-Reflex“ ausgelöst. Der Tauchmediziner Matthias Krüll erklärte mir später, dass es ein Wunder sei, dass ich überhaupt noch so weit hatte schwimmen können. Wäre ich dort unten panisch geworden, hätte es mir erst die restliche Energie aus meinem Körper gezogen.

AH: Sie haben sich die Videoaufnahmen später angeschaut, haben gesehen, wie die Retter sie zurückholten.

AvB: Wie ich mich selbst so liegen sah, war schlimmer, als ich es mir hätte vorstellen können. Das war schon eine extreme Grenzerfahrung, die ich nicht mehr erleben will.

AH: Wie lange waren Sie ohne Bewusstsein?

AvB: Ohnmächtig war ich vielleicht so zweieinhalb Minuten, hinzu kommt der Tauchgang von drei Minuten. Insgesamt war ich fünfeinhalb Minuten ohne einen Atemzug.

AH: Haben Sie nicht Angst einen Hirnschaden zu erleiden?

AvB: Nein.

AH: Warum nicht?

AvB: Das Gehirn wird bei uns Apnoetauchern anders als bei einem Herzstillstand weiter und kontinuierlich mit Sauerstoff versorgt.

Island Anna in der Gletscherlagune Fjallsarlon des Vatnajökull und in der Silfraspalte – Mexiko Salzwasserkrokodil in Banco Chinchorro Yucatan

AH: Fühlen Sie sich eigentlich als Extremsportlerin?

AvB: Wenn Extremsport extremer Sport ist, dann ist das, was ich mache, Extremsport. Für mich fühlt sich das aber nicht immer unbedingt so an. Wir sind aber keine Harakiri-Athleten. Ruhe und Entspannung sind in unserem Sport wichtig. Wenn wir mit Hormonen vollgepumpt in die Tiefe abtauchen würden, würden wir nicht weit kommen. Wenn ich weit nach unten kommen möchte, muss ich jeglichen inneren Widerstand aufgeben. Sonst gewinnt man keinen Blumentopf.

AH: Die nächste WM steht bereits im September 22 vor der Türe. Machen Sie mit?

AvB: Ich habe 34 deutsche Rekorde geholt und noch einen gültigen Weltrekord in der Tasche. Die Gier, noch einen Titel zu sammeln, habe ich gerade nicht. Aus zwei Gründen: zum einen macht Jennifer Wendland, eine Apnoetaucherin aus Essen, einen tollen Job. Zum anderen ging es mir noch nie darum, die Welt allein in Metern und Minuten zu erfassen. Mir geht es darum, die Magie besonderer Orte und Augenblicke festzuhalten – das steht gerade im Vordergrund. Pippi Langstrumpf war immer „Sachensucher“. Und ich will noch viele Sachen suchen.

AH: Was haben Sie bereits alles dort unten gefunden?

AvB: Im Training sah mir in Sharm El Sheikh ein Weißspitzen-Hochseehai zu, im Ras-Mohammed-Nationalpark eskortierte mich eine Schildkröte, im norwegischen Tromsø tauchte ich mit einer Orca-Gruppe. Als ein riesiges Orca-Männchen nur wenige Meter von mir entfernt war, spürte ich plötzlich ein mächtiges Brummen, ein Vibrieren.

AH:Was war das?

AvB: Sein Echolot, mit dem er mich kleinen Menschen abtastete. Das rund 4000 Kilo  schwere Tier umkreiste mich, beschloss dann, dass ich mit meinen 60 Kilo wohl keine allzu große Gefahr für seine Familie war. Ich frage Sie: Wie soll man so ein Erlebnis erfassen?

AH: Sie haben mit ihm geflirtet.

AvB: Es ist unmöglich das in Worten auszudrücken. Nur in der Seele lassen sich solche Momente festhalten.

AH: Mittlerweile zieht es Sie auch nach oben!

AvB: Eines der irrsten Erlebnisse war oben auf dem Gletscher. Tauchen in Eiskristallen, absinken in die Tiefe einer Gletscherspalte. Wow. Phänomenal war das, dort auf 2400 Metern Höhe, unterhalb des „Aiguille du Midi“ am Mont-Blanc-Massiv. Ich hatte schon lange vor, die einzigartige Unterwasserwelt der Berge zu erkunden. Während der Covid – Lockdowns habe ich viel Zeit bei meinem Freund verbracht, der seit einiger Zeit in „Les Contamines-Montjoie“ lebt, einem kleinen Dorf in den französischen Alpen, und die Gelegenheit genutzt dieses Projekt endlich umzusetzen. Wie für alle Abenteuer musste ich allerdings erst trainieren, um fit genug zu sein.

AH: Wie fit?

AvB: Für extreme Tauchgänge braucht man schon ein hohes Maß an körperlicher Fitness, aber die alleine reicht nicht. Ein Tauchgang ist auch eine mentale Anstrengung.

AH: Können Sie mir das bitte erklären?

AvB: Auf dem Weg nach unten höre ich in 30 Meter auf zu schwimmen und lasse mich nur noch fallen, um Energie zu sparen. Ich habe die Augen geschlossen und brauche meine ganze Konzentration dafür, den steigenden Wasserdruck auszugleichen, der auf meine Ohren, Neben- und Stirnhöhlen wirkt. Würde ich das nicht machen, würde das Trommelfell reißen. Mit

Budapest Anna an der berühmten Eisentreppe der Kobanya Mine und mit einer Lastenkarre, die seit 110 Jahren nicht bewegt wurde – Mexiko: Anna v. Bötticher in der Cenote Angelita

zunehmender Tiefe wird das immer schwieriger und braucht meine ganze Konzentration. Gleichzeitig wird meine Lunge immer mehr komprimiert. Damit sie das unbeschadet übersteht, muss ich absolut entspannt und trotzdem hoch fokussiert sein. Obwohl ich die Augen geschlossen habe, nehme ich meine Position im Wasser wahr, die Geschwindigkeit, mit der ich in die Tiefe falle, den Druck, der auf mich wirkt, das Licht, das verändert durch meine Lieder scheint. Die Eindrücke, die ich verarbeite, sind enorm, ebenso wie die physische Belastung auf den Körper, der sich an den hohen Druck in der Tiefe anpassen muss. Er ist inzwischen im Sauerstoffsparmodus, verteilt das Blut aus den Gliedmaßen in die Körpermitte, verlangsamt den Herzschlag und fährt den Stoffwechsel herunter. Auf diese Weise kann ich auch ohne zu atmen lange auskommen.

AH: Ist es aufwärts genauso stressig?

AvB: Das Aufsteigen ist psychisch und physisch anstrengend. Man sieht ja kein Ende des Tunnels, sondern nur blaues Wasser. Dann kommt der Atemreiz, man hat Zwerchfellkontraktionen – dieses Bedürfnis nach Luft kann ich nicht unterdrücken, ich kann es nur ausblenden, denn ich weiß: es ist ein falscher Alarm, in Wahrheit habe ich noch genug Zeit. Irgendwann fangen die Muskeln an zu brennen, aber es hilft ja nichts, ich muss immer weiter schwimmen. In einem Tauchgang erlebt man eine Reihe von mentalen und körperlichen Belastungen – verdichtet in eine Zeitspanne von drei Minuten, statt wie bei einem Marathon über mehrere Stunden verteilt.

AH: Wie trainieren Sie in Berlin?

AvB: Apnoetauchen ist der ultimative anaerobe Sport, schließlich sollen meine Muskeln möglichst wenig Sauerstoff verbrauchen. Dass, was für Ausdauersportler der Supergau ist, ist für mich ideal. Joggen und Radfahren, also alles was mit Ausdauer zu tun hat, vermeide ich. Deswegen trainiere ich Intervalle und Sprints. Am liebsten gehe ich jedoch zum Crossfit. Das High – Intensity – Training ist top: schnell, kompromisslos und effektiv. Körperliche Fitness ist eine Voraussetzung, die man braucht wenn man sich in neue, unbekannte Situationen begeben möchte, in denen man die Risiken nicht immer vorher ausschließen kann.

AH: Welche sprechen Sie an?

AvB: 2019 war ich in Ostgrönland, um dort unter dem Eis zu tauchen. Im Fjord von Tasilaaq frieren Eisberge fest, so dass sich unter der 80cm dicken Eisdecke eine faszinierende Landschaft aus verrückten Formen bildet – dort zu tauchen war ein wahnsinniges Erlebnis. Normalerweise taucht man unter Eis immer mit einer Leine, über die man mit dem Ausgang verbunden ist, aber in diesem Fall funktionierte das nicht, denn mit dem Seil konnte ich nicht um die Eisberge herumschwimmen, ohne mich zu verfangen. Ich tauchte mit Tobias Friedrich, einem der besten Unterwasserfotografen der Welt. Wir hatten Vertrauen ineinander und da das Wasser sehr klar war und die Orientierung gut funktionierte, beschlossen wir, vorsichtig ohne Leine zu arbeiten. Eines Tages bin ich unter einen sehr großen Eisberg getaucht, der tiefer war als die anderen, so dass ich von unten keinen Referenzpunkt mehr hatte. Ohne es zu merken habe ich mich gedreht – und bin auf der falschen Seite wieder hoch. Das Problem war nur, dass dort kein Loch war. Der Ein- und Ausgang war aus meiner Position nicht mehr zu sehen. Über mir nur dickes Eis. Mir war klar: das ist jetzt irgendwie blöd.

AH: Hatten Sie keine Angst?

AvB: Wenn es hart auf hart kommt, hebe ich mir die Angst für später auf.

AH: Was haben Sie gemacht?

AvB: Ich bin wieder abgetaucht.

AH: Was?

AvB: Ja, hätte ich panisch das Loch gesucht, hätte ich es bis heute nicht gefunden. Ich überlegte, wie groß ist mein Problem? Die Antwort: maximal! Als nächstes beschäftige ich mich nicht mit der Angst, sondern mit der Lösung. Mir war klar, meine einzige Chance, das Loch zu finden, war, entgegen jedem Instinkt wieder abzutauchen, um mir einen größeren Überblick über die Eisdecke zu verschaffen und das kleine Dreieck des Ausgangs hoffentlich im Gegenlicht zu sehen. Ich war gerade auf dem Weg nach unten, da kam Tobias Friedrich angeschwommen und zeigte mir in welche Richtung ich musste. Das einzige, was in solchen Situationen zählt, ist die Frage: was ist mein nächster Schritt? Sich darauf zu konzentrieren, daran arbeite ich auch mit den Leuten bei der Bundeswehr.

AH: Die Marinetaucher müssen sich im dunklen aus einem Helikopter befreien, der ins Wasser abgestürzt ist. Seit mittlerweile sieben Jahren unterstützen Sie die Marinetaucher bei ihrer Ausbildung. Wie kam es dazu?

AvB: Es gab in den Apnoe – Anteilen der Ausbildung immer wieder verschiedene Schwierigkeiten, auch damit, das ab und zu mal Leute ohnmächtig werden. 2015 kam die Bundeswehr auf mich zu, um zu helfen, die Übungen effizienter und sicherer zu machen.

AH: Wie reagierten die Ausbilder als Sie dort auftauchten?
AvB: Mit großer Skepsis. Sie waren alle sehr höflich, aber auch sehr reserviert. Sie sagten es nicht, gaben mir aber klar zu verstehen, dass sie von der Idee, eine Freitaucherin zu engagieren, nicht so viel hielten.
„Da bekommt ein Ausbilder, der seit 30 Jahren seinen Job macht, auf einmal einen Zivilisten an die Seite gestellt, der ihm erklären soll, wie er zu arbeiten hat“, haben Sie gesagt.Die hatten keinen Bock auf mich, das ist doch klar. Ich hatte dafür Verständnis, wusste ich ja selbst nicht, was mich dort erwartet und ob ich bei dieser Art von Ausbildung helfen kann. Deshalb wollte ich auch nicht sofort unterrichten.

AH: Sondern?
AvB: Ich habe mir erst fünf Wochen lang die Ausbildung der Kampfschwimmer angeschaut. Beiden Seiten war es dann schnell klar, dass, wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen, wir zusammen vieles verbessern können. Hinzu kam, dass ich mich nicht in einem Hotel einquartieren ließ sondern in der Kaserne, mir beim Essen in Ruhe eine Currywurst und ein kaltes Bier bestellte und mich nicht beirren ließ, als man mich fragte, ob wir Apnoetaucher nicht alle „so Veganer“ seien. Wir mussten uns einfach erst mal kennen lernen. Nach drei Tagen wussten wir, dass wir auf hohem Niveau zusammenarbeiten können.

AH: Haben die sie alle akzeptiert?
AvB: Der Respekt war schnell da. Als ich 2015 anfing, trainierte ich auf die WM in Kalamata. Vor dem Becken bildete sich eines Morgens eine Schlange, weil alle Soldaten zum Medizincheck eintrafen. Sie müssen wissen: für die meisten ist es schon die Hölle, wenn sie 50 Meter weit tauchen müssen. Also bin ich –mit Flossen – ins Becken gestiegen und mal eben 150 Meter getaucht, rausgestiegen und weg gegangen. Ich wusste, die Frage, wer hier wie Apnoetauchen kann, stellt sich jetzt nicht mehr.

AH: Wie lange wollen Sie das alles noch machen?
AvB: Ich mache es so lange, wie es mir noch Spaß macht. Schließlich habe ich kein Ablaufdatum, ich bin doch kein Joghurt. Der amerikanische Regisseur James Cameron von „Titanic“ und „Avatar“ ist mal in einem U-Boot 10000 Meter zur tiefsten Stelle des legendären Marianengrabens abgetaucht. Später wurde er gefragt, warum er dieses lebensbedrohliche Risiko eingegangen ist. Seine Antwort: „Weil es mein Herz mit Staunen erfüllt“, antwortete er. Mein Herz staunt jeden Tag.

Azoren in einem Baitball vor Pico Island

 

WATERWOMAN 4-teilige Doku

Andreas Haslauer
Henning Rütten, Quelle ARD