Die Schweiz hat ein massives Plastikproblem. Die Fakten-Analyse im OceanCare-Bericht „Plastic Matters“ offenbart ernüchternde Schwachstellen: Die Schweiz verbraucht pro Kopf so viel Plastik wie kaum ein Land der Welt. Ob Verpackungsmüll oder Mikroplastik, der Umweltschaden, der durch Unmengen von Einwegplastik entsteht, ist nicht mit Recycling wiedergutzumachen. Die Selbstregulierung der Wirtschaft funktioniert nur unzureichend und bestehende Gesetze werden nicht angewendet. Die internationale Meeresschutzorganisation OceanCare macht sich im eigenen Land stark dafür, konsequent Gesetze anzuwenden, damit die Schweiz ihr Plastikproblem in den Griff bekommt.
- 127 Kilo im Jahr pro Person: Schweiz gehört weltweit zu Spitzenreitern im Plastik-Verbrauch
- Recycling-Mythos: 85 – 90 % der Schweizer Plastikabfälle werden verbrannt
- Littering kostet die Schweiz jährlich rund 200 Millionen Franken
- Augenwischerei: Plastik ist nicht wie erwartet recycelbar und kaum kreislauffähig
- Politisches Handeln gefordert – Konsequente Umsetzung bestehender Gesetze steht an
„Die Schweiz muss sich ihrer Verantwortung in Sachen Plastikmüll international stellen – und auch im eigenen Land“ – Fabienne Mclellan, Geschäftsführerin OceanCare
„Die Schweiz ist Schlusslicht in Europa, was Massnahmen gegen Plastikmüll betrifft. Die Vereinten Nationen forderten mit der Annahme der Plastik-Resolution im März 2022 auch nationale Aktionspläne zur Bekämpfung der Plastikverschmutzung. Auch die Schweizer Bevölkerung selbst wünscht klar Interventionen, wie unsere neuste Umfrage zeigte. Nun ist der Bundesrat am Zug, das Plastikproblem systematisch zu lösen,“ so Fabienne McLellan.
Das Meer beginnt in der Schweiz Jedes Jahr gelangen rund 9 Mio. Tonnen Plastik in die Weltmeere. Mittlerweile sind alle Ozeane von Plastikabfall betroffen, einsame Strände ebenso wie der Meeresgrund der Antarktis. Allein im Mittelmeer landen jährlich rund 17.600 Tonnen Plastik. Millionen von Tonnen Plastikmüll treiben in fünf riesigen Müllstrudeln, der Pazifikstrudel ist fast vierzig mal grösser als die Schweiz. OceanCare setzt sich international für ein globales Plastikabkommen und die Begrenzung von Plastik ein – entlang des vollständigen Lebenszyklus: von der Gewinnung, Produktion und Verwendung, bis zur Entsorgung und Wiederverwendung von Plastik. Denn Flüsse sind die Wurzeln der Meere – das Meer hat seinen Ursprung auch in der Schweiz.
Tonnenweise Mikroplastik in Seen und Böden: eine unsichtbare Ölpest in der Schweiz
Jedes Jahr gelangen 14’000 Tonnen Makro- und Mikroplastik in die Schweizer Umwelt. Rund zwei Drittel davon stammen aus dem Reifenabrieb von Fahrzeugen (8’900 Tonnen). Doch schon das zweitgrösste Problem heisst Abfall: jährlich belasten 2’700 Tonnen Plastikmüll die Natur. So gelangen ganze 100 Tonnen Makroplastik – also Plastikteile, die grösser sind als 0,5 Zentimeter – in die Schweizer Gewässer und ganze 4.400 Tonnen in den Boden. Weitaus unsichtbarer sind tonnenweise Mikroplastikpartikel. Eine 2013 durchgeführte Untersuchung von Schweizer Seen ergab: fast jede Probe enthält die winzigen Plastikpartikel. Allein der Genfersee nimmt jedes Jahr etwa 55 Tonnen Plastik auf, das meiste als Mikropartikel. Mittlerweile sollen sich geschätzte 580 Tonnen Plastik im See angesammelt haben. Auch die Auen der Schweizer Naturschutzgebiete sind mit schätzungsweise 53 Tonnen Mikroplastik belastet und sogar im Schnee der Alpen und in abgelegenen Bergseen fanden sich beträchtliche Mengen an Mikroplastik.
Fast 100 Kilo pro Person – Die schädliche Plastik-Abfallkultur der Schweiz
Die Schweiz hat mit 127kg jährlich europaweit den höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Plastik. Jeder Mensch in der Schweiz erzeugt demnach 95 kg Kunststoffabfälle. Täglich wandert so pro Kopf etwas mehr als ein halbes Pfund Plastikabfall in die Tonne – oder die Natur. Neben Verpackungen werden Zigarettenstummel am häufigsten weggeworfen. Im März 2021 sammelten Schulklassen aus der Schweiz und Liechtenstein in zwei Wochen knapp 1 Million Zigarettenstummel – und verhinderten damit die Verschmutzung von 38,3 Millionen Litern Wasser. Ausserdem fallen Mikroplastik aus Reifenverschleiss ins Gewicht und Mikrofasern aus synthetischer Kleidung – etwa ein Drittel der in Europa verkauften Kleidung ist heute vollständig synthetisch. Hinzu kommen Mikroperlen in Kosmetika und flüssige Polymere, die Produkten absichtlich zugesetzt werden.
Recycling-Mythos – Kunststoff eignet sich nur begrenzt für die Kreislaufwirtschaft
85-90 % der Kunststoffe in der Schweiz werden bereits nach kurzem Gebrauch verbrannt und nicht recycelt, geschweige denn wiederverwendet. Das unterläuft klar das vom Bund offiziell angestrebte Ziel der Kreislaufwirtschaft und die verstärkte Wiederverwertung. Das Problem: Recycling funktioniert nur für Plastikabfälle, die gesammelt werden können und auch recyclingfähig sind. Jedoch stammt der meiste Kunststoff, der die Umwelt belastet, von Abrieb und Leckagen bei der normalen Nutzung eines Produkts. Vor allem aber: Kunststoff verliert in jedem Recyclingprozess an Qualität (Verunreinigungen, Rückstände etc), es müssen stets neue Rohstoffe beigemischt werden. Selbst im PET-Recycling – dem besten existierenden Verfahren – enthalten PET-Flaschen in Europa im Durchschnitt nur 17 % rPET. Und: Kunststoff ist nicht gleich Kunststoff: Die enorme Anzahl verschiedener Kunststoffe, Zusatzstoffe und unzähliger Kombinationen machen das Recycling in der Praxis oft unmöglich.
„Leider ist Recycling nicht die erhoffte Lösung für die Umwelt. In der Praxis zeigte sich: Kunststoff an sich ist kein Kreislaufmaterial,“ so Fabienne McLellan, Leiterin des OceanCare Plastikprogramms. „Die weltweite Kunststoffproduktion soll sich in 20 Jahren erneut verdoppeln und bis 2050 fast vervierfachen. Angesichts dieser Prognose ist klar: Wir können uns nicht aus der Plastikkrise herausrecyceln.“
Kunststoffe in Lebensmitteln und Verpackungen können krank machen
Partikel von PET, Polystyrol oder Polyethylen sind nachweislich in Lebensmitteln aus der Schweiz zu finden – z.B. in Äpfeln, Karotten, Salz oder in Bier. Die fraglichen Kunststoffe werden in Gegenständen wie Verpackungen, Flaschen, Rohren und Spielzeug verwendet.[i] Kunststoffe bestehen aus Erdöl und Erdgas. In der Produktion werden Chemikalien beigemischt, etwa hormonaktive Weichmacher wie Phthalate oder toxische Flammschutzmittel aus Brom. Lebensmittelverpackungen enthalten bis zu 12.000 teils toxische Substanzen, manche gehen aus der Verpackung auf die Lebensmittel über. Beim Essen nehmen wir dann einen unsichtbaren Cocktail giftiger Substanzen zu uns. In gewissen Mengen schädigen sie das Nervensystem, bringen den Stoffwechsel durcheinander, können zu Übergewicht und Schilddrüsenerkrankungen führen sowie Diabetes und Unfruchtbarkeit auslösen.
Bundesrat verzögert Regulierung – existierende Gesetze werden nicht angewendet
Um die Plastikmüllkrise in den Griff zu bekommen, bedarf es keiner neuen Gesetze. Es genügt, bestehende Gesetze und Verordnungen konsequent anzuwenden. Doch diese sagen bislang wenig bis gar nichts explizit über Kunststoff aus, können aber dennoch zur Reduzierung der Plastikflut angewandt werden. „In über 70 Vorstössen drückten die Parlamentarier einen klaren Wunsch nach Schritten gegen die Plastikvermüllung aus. Erstaunlicherweise hat dies der Bundesrat bislang ausgebremst“, so McLellan. OceanCare fordert den Bundesrat daher auf, geltende Schweizer Gesetze konsequent zur Regulierung von Kunststoffen auszuschöpfen und folgende Massnahmen umgehend umzusetzen:
- Das Umweltschutzgesetz, Art. 30a muss konsequent angewendet werden, um unnötige Einweg-Plastikartikel zu verbieten. Denn Wegwerfverpackungen für Take-away-Essen oder Plastiktüten werden oft nur einmal und kurzfristig verwendet.
- Auf Basis des Umweltschutzgesetzes, Art. 26 müssen Mikroperlen in Körperpflege- und Kosmetikprodukten verboten werden.
- Das Chemikaliengesetz, die Abfallverordnung und die Verordnung über Getränkeverpackungen sind heranzuziehen, um die Herstellung, Verwendung oder Entsorgung von Kunststoffen einzuschränken. Ausserdem ist längerfristig notwendig, das einst bewährte umfassende Wiederverwendungssystem zu reaktivieren, Reifenabrieb, Mikrofasern und Zigarettenkippen zu begrenzen und den Einsatz von Biokunststoffen und Flüssigpolymeren zu regulieren.
„Unsere Analyse im Bericht „Plastic Matters“ zeigt einmal mehr, wie massiv Plastik die Schweizer Umwelt belastet und unserer Gesundheit schadet. Dabei könnten die Schweizer Gesetze kaum klarer sein. Als Teil der „High Ambition Koalition“ setzt sich die Schweiz auf UNO-Ebene für ein ambitioniertes globales Plastikabkommen ein. Umso unverständlicher ist deshalb die mangelnde Bereitschaft des Bundesrates, sich seiner Verantwortung auch auf nationaler Ebene zu stellen“ schliesst Fabienne McLellan. „Diese zukunftsentscheidende Frage muss die Politik jetzt in die Hand nehmen. Wir brauchen bindende gesamtschweizerische Massnahmen und Verordnungen, die Haltung zeigen.“
Ilka Franzmann
OceanCare